Samstag, 16. Februar 2008

Entgrenzte Gewalt

von Kurt Spillmann, 15. Februar 2008, Neue Zürcher Zeitung

Abu Ghraib bei Bagdad war das verrufenste Gefängnis des Iraks. Unter Saddam wurden hier die politischen Gefangenen gefoltert und getötet. Nach Saddams Sturz übernahmen die US-Truppen Abu Ghraib. Im Mai 2004 gelangten die ersten Bilder von Folterungen und Demütigungen irakischer Gefangener durch amerikanische Soldaten und Soldatinnen an die Öffentlichkeit und lösten Entsetzen aus. 2005 und 2006 folgten weitere Bilderserien und Videos; offenbar gehörten solche Misshandlungen – in rund 100 Fällen mit Todesfolge – zum Standardverfahren bei Befragungen. Klagen wurden eingereicht, das Pentagon dementierte, das Weisse Haus schwächte ab: Schuld an diesen Misshandlungen seien einige untergeordnete Figuren gewesen, die sich nicht an die Vorschriften gehalten hätten.


Druck der Situation

Einer, der von den Bildern aus Abu Ghraib tief aufgewühlt – aber nicht überrascht – wurde, war Philip Zimbardo, Professor für Sozialpsychologie in Stanford. Einige Bilder aus Abu Ghraib glichen zum Verwechseln den Bildern, die 1971 im Laufe des von ihm geplanten und geleiteten «Stanford Prison Experiment» gemacht worden waren: nackte, gefesselte Gefangene mit Säcken über dem Kopf, sexuell missbraucht von ihren Bewachern und unter extremem Stress. Das Experiment, das arglos begonnen hatte, musste vorzeitig abgebrochen werden. Die 24 Studenten, alles wohlintegrierte junge Männer, die sich freiwillig für ein sozialpsychologisches Experiment gemeldet hatten und völlig zufällig in «Gefangene» und «Wärter» eingeteilt worden waren, kamen als «Gefangene» derart unter Druck und entwickelten als «Wärter» derart sadistische Züge, dass Zimbardo die Fortsetzung des Versuchs nach nur sechs Tagen nicht weiter verantworten konnte.

Wie leicht die im Hintergrund aller Menschen lauernde Gewaltbereitschaft jederzeit und überall entfesselt werden kann, dokumentierte auch Christopher R. Browning 1992 in seiner Studie «Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die in Polen».
Er schilderte, wie die 500 Männer einer Hamburger Reserveeinheit – im Wesentlichen «ganz normale» Angestellte, Lehrer, Handwerker und Facharbeiter – unter dem Einfluss der Umstände – dem Druck der militärischen Organisation, der Legitimation durch Ideologie und Befehle von oben, der Bereitschaft der Kameraden, Schiessbefehle gegen Zivilisten auszuführen, der Angst, die Zugehörigkeit zur Gruppe zu verlieren – zu Massenmördern wurden, ohne dazu gezwungen worden zu sein.
Auch aus den Genoziden in Rwanda, Bosnien, Kambodscha und aus vielen weiteren Konflikten wird berichtet, wie unter dem Druck der Kriegssituation die persönliche Ethik schwindet, der «Gegner» oder die Opfer nicht mehr als Menschen betrachtet werden und Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, sogar Gewöhnung an den Akt des Tötens möglich wird.

Der unsichtbare Feind
Auf erschütternde Art und in bis anhin nie gesehenem Detail dokumentiert nun der Hamburger Historiker Bernd Greiner diesen Prozess an den amerikanischen Soldaten, die in Vietnam in einem «Krieg ohne Fronten» kämpften, ständig auf der Suche nach dem Feind, den sie als Helden des Guten besiegen wollten. Junge Männer, auf positive soziale Werte sozialisiert in ihren amerikanischen Familien und Schulen, kamen nach Vietnam als Gutgläubige, «die in die Fussstapfen ihrer Väter treten, sie nachahmen oder gar übertreffen wollten». «Als Treuhänder des amerikanischen Patriotismus wollten sie gesehen werden.» Doch der Alltag des Krieges entsprach nicht ihren John-Wayne-Bildern. Statt einen klar definierten und klar erkennbaren Feind vorzufinden, trafen sie nur auf eine vorwiegend ländliche Bevölkerung, die ihnen in Sprache, Mentalität und Kultur unverständlich und fremd war. Bald schien eine Unterscheidung zwischen Vietcong, Sympathisanten und Zivilisten nicht mehr möglich: Der unsichtbare Tod lauerte überall.

Greiner zeigt die Dynamik eines asymmetrischen Krieges ohne Fronten, in dem gerade die Unsichtbarkeit des Gegners Angst und Wut der Kämpfenden ins Masslose steigert und alle Schranken hinwegfegt, die das Völkerrecht und speziell die Genfer Konventionen für die Schonung von Zivilisten und Gefangenen aufgerichtet haben. Aus der Angst erwuchs ein abgrundtiefer Hass auf den unsichtbaren Feind. Was sich bewegte, war potenziell ein Feind und wurde zum Ziel. So wurde auch My Lai möglich, wo im März 1968 rund 500 Männer, Frauen und Kinder von einer kleinen Gruppe von Soldaten unterschiedslos erschossen wurden. Im Gegensatz zur Meinung von Öffentlichkeit, Gerichten, militärischen Vorgesetzten und Politikern zeigt nun Greiner auf der Basis einer erdrückenden Fülle von Beweismaterial auf, dass das Massaker von My Lai bei weitem kein Einzelfall war, sondern nur das bekannteste Beispiel aus einer unabsehbaren Folge willkürlicher Gewalttaten.

(...)

Die Stärke von Greiners Buch ist die Schilderung des Vietnamkrieges und der in Vietnam verübten Gewalttaten aus einer vernachlässigten Perspektive: Es stehen weder die strategischen Entscheidungen des Kalten Krieges noch die diplomatischen Anstrengungen zu seiner Beilegung, weder die Traumata der Heimkehrer noch die zurückblickenden Gestaltungen von Kriegserlebnissen in Film und Literatur im Mittelpunkt, sondern es sind der Kriegsalltag und die darin immer wieder hervorbrechende hemmungslose Gewalttätigkeit, die in einer streng sachlichen, unpolemischen und deshalb umso stärker beeindruckenden Art zur Darstellung kommen.
Im Zentrum steht die Gewalt von Bodentruppen, wie sie abseits der Hauptkriegsschauplätze und jenseits des grossen Kampfgeschehens verübt wurde. Da bei dieser Kriegführung operative und doktrinale Vorgaben, die in Washington entwickelt und gutgeheissen wurden, eine entscheidende Rolle spielten, werden auch die Rolle der Kriegsherren im Weissen Haus, der Generäle im Pentagon und das Verhalten der Offiziere vor Ort einer genauen Analyse unterzogen. Die endemische Verachtung des Kriegsrechts kommt ebenso zur Sprache wie das karrierebedingte Interesse vieler Kommandanten an einer aggressiven Kriegführung, die um jeden Preis eine hohe «body count»-Bilanz anstrebte.

Greiners Werk ist eine meisterhafte Darstellung des Kriegsalltags in Vietnam und der Auswirkungen der unerträglichen Anspannung der für einen ganz anderen Krieg ausgebildeten Kämpfer in Dschungel und Reisfeldern, die militärische Aufträge zu erfüllen hatten, ohne einen organisierten militärischen Feind zu Gesicht zu bekommen.
Ebenso eindrücklich ist die Schilderung der Leichtigkeit, mit der harmlose junge Männer plötzlich unter den Umständen dieses asymmetrischen Krieges zu Mördern wurden. Schwer zu begreifen die Unfähigkeit der amerikanischen Führung, eine Exit-Strategie zu finden. Bedenklich die Verleugnung der Gewaltexzesse und Kriegsverbrechen durch militärische, politische und juristische Instanzen aller Ebenen und schliesslich die Unfähigkeit grosser Teile der amerikanischen Öffentlichkeit, das Gewaltgeschehen als tatsächliches Geschehen zu akzeptieren und selbstkritisch zu reflektieren.

Greiner stellt eine kritische Bemerkung Telford Taylors, des Hauptanklägers im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ab 1946, an den Schluss seines Buches: «Wir haben es irgendwie nicht geschafft, die Lektionen zu lernen, die wir in Nürnberg lehren wollten, und genau dieses Versagen ist die Tragödie des heutigen Amerika.» – Ist es nur die Tragödie Amerikas?
Liegt nicht ein allgemeineres Versagen vor, dass Kämpfende, Kriegführende, Politisierende die Wurzeln ihres eigenen Handelns und ihre eigene verborgene Neigung zu Gewalthandlungen nicht kennen und auch kaum bereit sind, ernsthaft danach zu suchen?
Modernes Ingenieurwissen hat den Regierungen und den Kämpfenden unserer Zeit Waffen in die Hand gegeben, die Wirkungen von geologischen Dimensionen erzielen können. Es ist höchste Zeit, in Erfahrung zu bringen, warum die Gewaltneigung im Menschen – von Kain und Abel bis zu Holocaust, Rwanda, Srebrenica, My Lai, Darfur und Abu Ghraib – so viel dauerhafter und stärker ist als alle kulturellen Dämme, die von der menschlichen Zivilisation im Laufe der Geschichte in Gestalt von Rechtsnormen dagegen aufgerichtet wurden.

Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburger Edition, Hamburg 2007. 595 S., Fr. 58.90, € 35.–.